Ausstellungen vom 17. September - 20. November 2016:
Eröffnung der Ausstellung am Freitag, 16.9. um 19 Uhr
Die Gruppenausstellung ›Das Lineal der Gerechtigkeit‹ fragt ausgehend von den vielfältigen Werkkomplexen der drei Künstlerinnen Silvia Bächli (* 1956 in Baden, Schweiz), Geta Brătescu (*1926 in Ploiesti, Rumänien) und Andrea Tippel (*1945 in Hirsau / Schwarzwald; †2012) danach, wie sich spezifische Lebensumstände in künstlerische Arbeitsprozesse einschreiben. Im Fokus stehen dabei das Zeichnen sowie diagrammatische Aufzeichnungsverfahren als Aneignung von unterschiedlich soziopolitisch geprägter Lebenswelt und ihrer Wahrnehmung. Jeder Strich entspricht einer Haltung und steht im Bezug zum eigenen Körper. Zugleich dient den drei Künstlerinnen die Zeichnung als Ausgangspunkt für den Transfer in andere Medien wie Collage, Buch, Skulptur, Fotografie, Film und Performance.
Das Zeichnen war für Andrea Tippel ein hermeneutischer Prozess, eine Welt-Aneignung und der Versuch, in ihm die Zeit festzuhalten. Der Titel der Ausstellung ›Das Lineal der Gerechtigkeit‹ ist zugleich Titelteil einer Arbeit der Künstlerin und verweist auf das Medium der Zeichnung sowie vielfältige Weisen der Abstrahierung. Mit einem Lineal wird eine Linie gezogen, die trennt, verbindet oder hervorhebt. Lege ich das Lineal an oder wird es von anderen geführt und ist die Linie stets grade oder auch unscharf, wellenförmig? Die phantasmatische Vorstellung, dass es einen Gegenstand gibt, mit dem man Gerechtigkeit walten lassen kann, wird von Andrea Tippel in humoristischer Weise gewendet. In ihren Arbeiten vereinen sich Diagramme mit philosophischen Aussagen, werden kryptisch, durchzogen von einer spürbaren Unruhe. Eine Befragung der Zeitlichkeit und ein Beharren auf dieser − sowohl theoretisch als auch praktisch – kehren in ihren Arbeiten immer wieder.
Für Silvia Bächli sind ›gute Zeichnungen größer als das Papierformat. Zeichnen ist Raum schaffen, mit den und gegen die Ränder des Papiers arbeiten‹. In ihrer künstlerischen Praxis gibt es zwei Zeiten: die Zeit des Malens und Zeichnens sowie die Zeit des Auswählens, des Neu-Sortierens und des Zusammenstellens. Welches Blatt wird wohin bewegt, welche Technik wird ihm zuteil ? Woraus entwickeln sich Form und Struktur ? Neben einer großformatigen Wandarbeit zeigt Bächli kleinformatige Zeichnungen auf sieben Tischvitrinen. In diesen thematischen Gruppierungen tellt die Künstlerin Verbindungen zwischen einzelnen Blättern her, deren Entstehung oft Jahre auseinander liegen. In dieser beständigen Sichtung und Neuordnung der eigenen Arbeit findet auch eine Wiederaneignung des eigenen Werkes statt.
Unter dem kommunistischen Regime ihrer Heimat Rumänien arbeitete Geta Brătescu bis 1989 unabhängig von internationalen Tendenzen in ihrem Atelier in Bukarest. Ohne breites Publikum, aber im Dialog mit anderen südosteuropäischen Avantgardekünstlern entwickelte sie eine vielseitige künstlerische Praxis, in der sich das Zeichnerische und das Performative auf Papier, in textilen Objekten oder im Video verbinden. Häufig sind Arbeiten seriell konzipiert und deklinieren bestimmte Gesten und Formen in leichten Variationen durch. In den ›Drawings with your eyes closed‹ zeichnete Brătescu blind, als ihr der eigene Strich zu sicher und perfekt erschien. Diese Verunsicherung der Linie ist gleichzeitig ein Sichtbarmachen des Unbewussten und seiner Prägungen durch die soziopolitischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts. In der Ausstellung werden grafische Werke der letzten fünf Jahre sowie zwei Video-Arbeiten gezeigt.
Der Protagonist in Patrick Modianos ›Die Gasse der dunklen Läden‹ ( Rue des Boutiques Obscures, 1978) befürchtet, ein Strandmensch zu sein: ein Mensch, dessen Spur sich verliert wie ›der Sand die Spuren unserer Füße nur wenige Sekunden bewahrt‹. Der Roman erzählt die Geschichte des Detektivs Guy Roland, der sich seiner abhanden gekommenen Vergangenheit wieder zu vergewissern versucht. Reale und imaginierte Erinnerungen vermengen sich zusehends, während der Suchende in die eigene Geschichte eintaucht. Doch eine befriedigende Aufklärung der Identitätssuche bleibt sowohl Roland als auch dem Leser letztendlich versagt.
Modiano zeichnet das Bild eines Menschen ohne Eigenschaften, eine weiße Leinwand, die der Protagonist selbst zu füllen versucht. ›Ich bin nichts‹ sind die ersten Worte, mit denen er seine Aufzeichnungen beginnen lässt. Der mexikanische Künstler Rodrigo Hernández spürt diesem Motiv in seiner Einzelausstellung ›I Am Nothing‹ im Studio des Heidelberger Kunstvereins nach. Die aus Papiermaché gefertigte Skulptur ›Figure 1‹ (2013) nimmt dabei die Hauptrolle ein: Eine Person ohne Füße hat ihre leeren Hände nach vorne geöffnet. Ihr unsicherer Stand deutet die Schwierigkeiten von Verortung an, die Geste der Hände verstärkt den fragilen Eindruck. Angelehnt an Modianos Detektiv und die Sprache von Giorgio de Chiricos Metaphysischer Malerei stellt die Figur einen ›unbeschriebenen‹ Körper dar, dessen Aussehen keinen Aufschluss über Alter oder Herkunft zulässt. Erscheint uns diese Gestalt einerseits stumm, spricht sie doch eine universelle Sprache. Woher kommt ›Figure 1‹? Was verrät uns ihre Körpersprache ? Welche Identität besitzt sie ? Rodrigo Hernández sucht nach Spuren, die diese Figur beschreiben und entwickelt eine Erzählung um sie herum: Ein Mann zieht in eine neue Stadt. Sein Besitz jedoch trudelt nur Stück für Stück ein. Als schließlich alles angekommen ist, scheint es ihm unmöglich, sein Hab und Gut noch wieder zu erkennen.
Die Erzählung öffnet sich zu einem Dialog mit Bildern und Objekten, die sich ebenfalls einer zeitlosen Formensprache bedienen und sich teilweise an Dokumente und Artefakte aus der ersten sowjetischen Weltraummission anlehnen. So schafft Rodrigo Hernández einen Raum, der sich zu einem poetischen Narrativ verdichtet. Für den Heidelberger Kunstverein entwickelt er ein komplexes Szenario, das unsere Suche nach Beziehung, nach Identität und Verortung widerspiegelt und sich durch das Hinzukommen weiterer Arbeiten im Laufe der Ausstellungsdauer immer stärker verzweigt.
Rodrigo Hernández (*1983 in México City) studierte Bildende Kunst an der Escuela Nacional de Pintura, Escultura y Grabado ›La Esmeralda‹ in México City und an der Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe bei Prof. Silvia Bächli (2010 – 2012). Ein Stipendium führte ihn 2013 / 2014 an die Jan Van Eyck Academie in Maastricht und jüngst an das New York Studio Grant. Weitere Auszeichnungen erfolgten durch die Laurenz-Haus-Stiftung in Basel, die Kunststiftung Baden-Württemberg und den Kulturfonds der Landeshauptstadt Salzburg. Noch bis Ende Oktober 2016 ist Hernández als Stipendiat der Akademie Schloss Solitude Stuttgart und des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg an der Cité Internationale des Arts in Paris. Mit diesem Auslandsstipendium ist auch die Einzelausstellung ›I Am Nothing‹ im Heidelberger Kunstverein verbunden.
Silvia Bächli: Ohne Titel, 2008
Courtesy Silvia Bächli und Barbara Gross Galerie, München
Geta Brătescu: aus der Serie ›Jeu de Formes (Jocul formelor)‹, 2010
Courtesy Geta Brătescu und Ivan Gallery, Bukarest
Andrea Tippel: ›Junger Löwe, mit Stuhlsprossen spielend‹, 1993
Courtesy Galerie Melike Bilir, Hamburg
Rodrigo Hernández: ›Isola di frutta‹, 2015
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